Ein bewegtes
Musikerleben
Lebensstationen
Die Ausstellung lenkt zunächst den Blick auf die wesentlichen Lebensstationen von Julius Otto Grimm. Sie thematisiert etwa sein Wirken als Hauslehrer in St. Petersburg, behandelt die prägende Ausbildungszeit in Leipzig und widmet sich schließlich der längeren Phase von der Familiengründung bis zur beruflichen Etablierung (Göttingen und Münster). Die Schau dokumentiert aber nicht nur den Werdegang Grimms, sie spürt auch seinem Nachruhm nach.
Pernau/Dorpat/St. Petersburg
Julius Otto Grimm kommt am 6. März 1827 als Sohn deutschstämmiger Eltern im livländischen Pernau zur Welt. Vater und Mutter sterben früh und so wächst er ab 1833 gemeinsam mit dem älteren Bruder August bei Verwandten auf. Nach der Gymnasialzeit geht er 1844 nach Dorpat und nimmt hier ein Studium der Philologie auf. In diese Zeit datieren nicht nur erste Kompositionsversuche, sondern auch eine – vielfach als schicksalshaft beschriebene – Begegnung mit Clara und Robert Schumann. Nach dem Oberlehrer-Examen im Jahre 1848 zieht Grimm nach St. Petersburg und wird Hauslehrer bei Kommerzienrat Karl Tunder. Ein besonderes Verhältnis bestand offenbar zu dessen Tochter Marie. Grimm vertont einige ihrer Gedichte und widmet ihr später auch seine Sechs Lieder op. 1.
Einen Wendepunkt im Leben Grimms markiert der Beginn des
Studiums am
Leipziger Konservatorium. Darauf setzte der junge
Komponist offenbar all seine künstlerischen Hoffnungen. Dass die
Reisevorbereitungen zu Beginn des Jahres 1851 sehr
nervenaufreibend waren, dokumentieren die Briefe an seinen
Bruder.
In
einem Schreiben vom 14. Januar 1851 heißt es etwa:
„[…] Aber vor allen Dingen beschleunige die Ausfertigung
meines
Paßes, wenn dies in Deiner Macht steht, – ich lebe in
einer unbeschreiblichen Angst und Spannung zwischen Furcht und
Hoffnung
aufgehängt. Diese Tage entscheiden über mein
ganzes Leben. Wird mir nach Vorzeigung meines Paßes von oben her
ein
Reisepaß fürs Ausland abgeschlagen, so bin ich
gelähmt, vielleicht für immer, – angewiesen auf eine kümmerliche
Existenz, da meine bisherigen Stunden mich kaum vom
Hungertod retten und ich nicht weiß, wie ich zu mehr Kundschaft
gelangen
soll. Ans Ausland ist dann, für 10 Jahre
vielleicht, nicht zu denken, und mittlerweile verliere ich meine
Jugend
und die Fähigkeit allerhand aufzunehmen; jetzt
dagegen würde ich wie ein Blutegel die Meister aussaugen und
mich
mit
ganzer Seele in die Kunst hineinstürzen. Gott
Gott! Ich fiebere, wenn ich in mein unmenschliches Glück, oder
in
den
bodenlosen Abgrund vor mir hineinzuschauen wage,
und kann doch keinen anderen Gedanken denken, als diesen. […]“
Leipzig
Ab 1851 studiert Grimm am Leipziger Konservatorium. Zu seinen Lehrern zählen u.a.
Julius
Rietz, Moritz Hauptmann und
Ignaz Moscheles. Eine noch dreisätzige Frühfassung seiner d-Moll-Sinfonie gelangt am
19.
Juni 1852 im Rahmen einer
öffentlichen Hauptprüfung erstmals zur Aufführung. Als Brahms im Herbst 1853 in
Leipzig
weilt, lernt er Grimm kennen und
wohnt bei ihm. Es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Die beiden
aufstrebenden
Komponisten, deren erste
Werke in unmittelbarer zeitlicher Nähe bei Breitkopf & Härtel erscheinen, halten
sich in
der
Folge u.a. in Hannover
(Kontakt zu Joseph Joachim, Franz Wüllner u.a.) und Düsseldorf auf. Nach Robert
Schumanns
Selbstmordversuch stehen sie
Clara bei.
Göttingen
Nach längeren Aufenthalten in Düsseldorf und Hannover übersiedelt Grimm im Frühjahr
1855
nach Göttingen. Die erhoffte
akademische Musikdirektorenstelle erhält er zwar nicht, gleichwohl veranstaltet er
hier
zahlreiche Chor- und
Orchesterkonzerte und baut sich einen treuen Schülerkreis auf (darunter auch Brahms’
spätere
Verlobte Agathe von
Siebold). Im Jahr 1856 heiratet er Philippine Ritmüller. Die Tochter des Göttinger
Klavierfabrikanten Wilhelm Ritmüller
tritt als Pianistin in den folgenden Jahren wiederholt in Grimms Konzerten auf. Er
wird
später über seine Frau sagen:
„Nur einmal im Leben habe ich wirklich Glück gehabt, das war, als ich meine Frau
fand.“
Aus
der Ehe gingen vier Kinder
hervor, von denen jedoch zwei – nämlich der älteste Sohn Johannes (Patenkind von
Brahms)
und
Agathe (Patenkind von
Agathe von Siebold) – früh verstarben.
Münster
Im Herbst 1860 wird Grimm als Leiter des Musikvereins nach Münster berufen. Trotz mancher Vorbehalte bleibt er in der Westfalenstadt und prägt über 40 Jahre deren Musikleben. Ihm ist es zu verdanken, dass so namhafte Musikerinnen und Musiker wie Clara Schumann, Amalie und Joseph Joachim sowie natürlich auch Johannes Brahms wiederholt in Münster konzertierten. Als langjähriger Musikdirektor und Dirigent des Musikvereins, als Lektor für Musiktheorie und Gesang an der königlichen Akademie, als Präsident des Akademischen Gesangvereins sowie als Leiter der Münsterschen Liedertafel trägt er auf verschiedenen Ebenen zur Professionalisierung des Konzertbetriebs bei. Im Verbund mit seinen Konzertmeistern (insbesondere Gustav Adolph Bargheer und Richard Barth) gelingt es ihm, sukzessive das Orchester auf ein besseres Niveau zu heben. Im katholischen Münster widmet sich Grimm intensiv der Bach-Pflege (Kantaten, Passionen etc.) und setzt sich mit großem Nachdruck für die Musik Georg Friedrich Händels ein. So erklingen zahlreiche Oratorien des Barockmeisters oft in eigenen Bearbeitungen.
Vereinzelte Informationen über das Familienleben der Grimms in Münster kann man seinen Briefen entnehmen. Am 19. Juli 1864 schreibt er etwa an Brahms: „Ich einsiedele hier in Münster und gebe Stunden, denn ich muss unser tägliches Brot verdienen. […] auch Dein Pate Johannes macht Dir seine Reverenz; – er ist jetzt sieben Jahre alt und ein Schulbube mit einem Tornister auf dem Rücken und allerlei Dummheiten im Kopf. Außer ihm haben wir noch ein dickes, rundes Agathchen, vierjährig und putzig und lustig, – und einen einjährigen Otto, der immerzu unverständliches Zeug schwatzt und Turnübungen mit der Zunge anstellt. – Das ist unsere kleine Familie.“ Die kleine Agathe verstirbt – wie der Todesanzeige zu entnehmen ist – bereits im Alter von 8 Jahren. Brahms’ Patenkind Johannes wurde Apotheker und ließ sich in Iloilo auf der zu den Philippinen gehörenden Insel Panay nieder. Auch er stirbt bereits im Herbst 1897 am Tropenfieber. Der Zweitgeborene Sohn Otto wurde Mediziner und machte Grimm 1895 noch zum stolzen Großvater. Einzig das jüngste Kind, die 1868 geborene Tochter Marie, wurde Musikerin.
Tod, Begräbnis und Gedenkfeier
Am 7. Dezember 1903 verstarb Julius Otto Grimm in Münster. In einem
Gedächtnisartikel
war zu
lesen:
„[…] Daß der zarte Körper des unablässig Arbeitenden in den letzten Jahren noch
vielen
und
schweren Erkrankungen
widerstand, war den Seinen fast unbegreiflich. Im Frühjahr 1896 wurde zuerst er
selbst,
wenige Tage darauf seine Frau
von der Lungenentzündung befallen; sie starb, und ihm, dem noch Leidenden, mußte ihr
Tod
Wochen lang verheimlicht
werden. […] Nach qualvollen Wochen brachte dem Betagten der Tod am 7. Dezember 1903
die
ersehnte Erlösung. Das Begräbnis
aber gab Kunde von einer die weitesten Kreise beherrschenden Trauer. Nach einem
Choral
der
Kapelle wurde der 23. Psalm
gesungen, und vor der Rede des Geistlichen spielte Richard Barth, am Sarge stehend,
einen
Bachschen Satz. Unter den
Klängen des Trauermarsches aus Grimms eigener Symphonie trugen Musiker den Sarg
hinaus;
in
zwei, drei Reihen bildeten
die Münsteraner bis zum Friedhofe Spalier. – An der Stätte seiner 40-jährigen
öffentlichen
Tätigkeit, im
Rathausfestsaal, fand später eine Gedächtnisfeier statt, eingeleitet durch einen
Chor
aus
der Bachschen Matthäuspassion,
ausgewählte Werke des Toten darbietend […].“
Julius Smend, „Zu Julius O. Grimms Gedächtnis“, in: Monatschrift für Gottesdienst
und
kirchliche Kunst (9. Jahrgang, Nr.
3, März 1904), S. 83.